Besucher und Patienten eines Wartezimmers können manchmal sehr interessant sein.
Um viertel nach acht hatte ich schon eine Schlange von 10 Leuten vor mir. Ok, Zeitung suchen und setzten.
Die Zeitung war überraschenderweise ein echter Knüller. Eulenspiegel - unbestechlich, aber käuflich. Ich habe schon lange nicht mehr so eine gute Satire-Zeitschrift gelesen. Selbst an der Randwerbung bin ich regelrecht klebengeblieben. Im Wartezimmer ist nie etwas komisch und gelacht wird schon garnicht. Ich musste es mir des öfteren verkneifen laut loszuprustern und übrig blieb ein lautloses breites Grinsen. So macht das Warten Spass.
Nach einiger Zeit stand ein Herr um die vierzig auf und fragte die Arzthelferin, ob sie ihm einen Gefallen tun könne. Er wäre verlobt und wolle seiner Verlobten Bescheid geben, dass er hier ist. Wollte er nur zeigen, dass er eine Frau zu Hause hat? Oder war sie gar krankhaft eifersüchtig und er wollte ihr nur zeigen, dass er wirklich beim Arzt ist? Er wurde von der Helferin nach ihrer Telefonnummer gefragt. Er wusste sie nicht. Oh backe, der kennt noch nicht einmal ihre Nummer. Die Helferin fragte nach dem Namen der Verlobten. Der fiel ihm auch nicht auf Anhieb ein. Ab diesem Moment fing er an mir leid zu tun und ich begriff die Situation. Nach einigem Fragen hatten sie die Frau ausfindig gemacht und benachrichtigt. Der sehr verstörte Mann wurde in ein separates Zimmer gebracht und dort betreut bis die Frau ihren Mann abholte. Eine herzensgute Frau, die sich sehr oft für die nette Hilfe bei den Helferinnen bedankte.
Ein älterer Herr (mind. 80 J.) hatte sich extra für den Arztbesuch seinen Ausgeh-Sonntagsanzug mit Hemd und Pullunder angezogen. Er hatte reichlich Mühe vorwärts zu kommen und auf seinem chicen Pullunder waren noch einige Frühstücksreste zu erkennen. Er bekam von der Arzthelferin einen Bogen hingelegt, den er unterschreiben sollte. Mit einer eleganten Handbewegung zückte er seine Lesebrille und unterschrieb an der vorgesehenen Stelle, als ob er sein erstes Buch signieren würde. Gelesen hatte er den Text bestimmt nicht, aber er tat so, als wüsste er genau was er gerade unterschrieben hatte.
Ein alter stolzer Mann, der wahrscheinlich sein Leben mit sehr viel Strenge und Selbstdisziplin gemeistert hat. Er hat bestimmt mittlerweile 4 Enkel und erfreut sich jeden Morgen beim Frühstück an seiner Tageszeitung, die ihm seine Frau morgendlich liebevoll an die linke Seite seines Tellers legt.
Meiner Nachbarin knurrt der Magen. Sie hat bestimmt genau wie ich nichts gefrühstückt. Vielleicht sollte in Arztpraxen ein zweites Frühstück und gesunde Snacks angeboten werden. Gut wären auch Getränke. Ich hätte am liebsten einen Kaffee, einen frisch gepressten O-Saft (soll ja gesund sein), 2 Brötchen mit Schinken und Käse, ein weichgekochtes Ei und ein kleines süßes Croissant zum Abschluss. Selbst im Billigflieger ist ein Brötchen mit Kaffee und Wasser drin und es dauert nicht so lange wie im Wartezimmer. Jetzt wo ich drüber nachdenke knurrt auch mein Magen.
Eine Frau kommt rein, begrüßt alle und geht dann zielstrebig zu einer ihr bekannten anderen Frau. Diese wird begrüßt mit den Worten: „Bist du krank?“ Nö - sie sitzt wahrscheinlich jeden Morgen zwischen ihrem Morgenmüsli und ihrem Mittagsauflauf aus Zeitvertreib dick in einen Schal eingewickelt in Wartezimmern rum um dort Zeitung zu lesen. Sie sucht sich bestimmt auch jeden Morgen ein anderes Wartezimmer aus. Es soll ja nicht langweilig werden!
Es folgt der übliche Dorfklatsch!
Eine Dame mittleren Alters kommt verschleiert in ihrem religiösem Gewand und setzt sich auf eine Wartebank. Selbst ihre Schuhe sind ziervoll mit Perlen und farblichen Accessoires geschmückt. Das Gewand in einem schlichten Flieder – ihr Gesicht kaum zu erkennen. Sie bekommt erst mal den Puls gemessen.
Dann kommt eine Mutter mit ihrem vielleicht dreijährigem Kind. Die Mutter hat gerade noch die vorletzte Grippeschutzimpfung aus der Arztpraxis bekommen. Die noch recht eigene Sprache des Mädchens kann teils nur ihre Mutter verstehen. Es ging darum, dass die Mutter ihrer Kleinen klarmachen wollte, dass sie keinen Nuckel mehr bräuchte – mit Argumenten wie: dann werden deine Zähne schief und alle anderen Kinder lachen dich aus. Oder wie: deine Freundinnen haben auch keinen Schnuller mehr. Dann fing das Mädchen an sich ein Spiel daraus zu machen:
Kind: hat Lisa einen Schnuller?
Mutter: Nein, Lisa hat keinen Schnuller mehr.
Kind: hat Anna einen Schnuller?
Mutter: Nein, Anna hat auch keinen Schnuller mehr.
Kind: hat der Bär einen Schnuller?
Mutter: nein, der Bär hat keinen Schnuller.
Das Zuhören fing an mir Spaß zu machen. Ich war neugierig darauf, wie lange es ging und ob die aufgeweckte Kleine zuerst das Interesse verlor oder die Mutter zuerst die Nerven.
Kind: hat der Tiger einen Schnuller?
Mutter: nein, der Tiger hat auch keinen.
(…)
Sie wurden irgendwann von der Arzthelferin unterbrochen, die noch restliche Unterlagen zurückgab und dann wollten sie gehen. Schade eigentlich, denn so blieb das Ende für mich offen. Kind eingepackt in Anorak, Schal und Mütze und los kann´s gehen. Als sie an der Frau mit ihrem Gewand vorbeigingen, blieb die Kleine stehen, zeigte mit ihrem ausgestreckten Finger auf die Frau und sah dabei fragend ihre Mutter an.
Ich hatte das Gefühl, dass alle anderen in dem Warteraum gespannt auf den Verlauf der Situation waren. Jeder wollte die Antwort der Mutter hören die noch zu überlegen schien. Sekunden der Ruhe! Dann die hilflose Erklärung zu der Kleinen: du hast doch auch eine Mütze auf, sieh mal und zog an ihrer Mütze rum. Man sah dem Kind an, dass sie mit der Antwort nicht zufrieden war. Sie sah sich die Frau genau an, wurde dann aber von der Mutter Richtung Ausgang gezogen.
Ich hätte so spontan wahrscheinlich auch keine erzieherisch wertvolle Antwort parat gehabt.
Hätte die Mutter etwas über die andere Religion und Kultur erzählen sollen? Hätte sie es überhaupt gewusst?
Das Thema ist häufig soo sensibel, dass jede Antwort eine Falsche ist, wenn man es so sehen möchte.
Es gibt dafür kein Patentrezept.
Ich habe mich dann weiter in die Zeitung vertieft und war dann nach zweieinhalb Stunden auch dran.
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